Im Jahr 2000 schrieben wir in Danzig die Charta der Menschenpflichten nieder.
Wir erinnerten uns an die Idee der Solidarität der Gewissen zurück, die in Danzig vor zwei Jahrzehnten entstand. Genau dieser Reflex der Verantwortung für andere war entscheidend für die Kraft jener Auflehnung. Die Überwindung der unmittelbaren Befriedigung durch Zurückstellen der eigenen Interessen um der Solidarität willen begünstigt die Belange der Schwächeren. Diese Überwindung markierte den Anfang einer der größten Umbrüche in der Geschichte des heutigen Europas. Denn wie würde diese aussehen, wenn die Danziger Werftarbeiter mit dem Versprechen eines um wenig erhöhten Gehalts, das ja allein sie selbst betraf, nach Hause gegangen wären?
Mit der Distanz des ersten Jahrzehnts der Freiheit, 20 Jahre nach dem Aufbegehren der ersten unabhängigen Gewerkschaft und 50 Jahre nach Unterzeichnung der Allgemeinen Menschenrechtserklärung haben wir versucht, Schlüsse für die Zukunft zu ziehen.
Die Charta der Menschenpflichten wurde als Appell an das Gewissen entworfen, als moralischer Impuls. Denn wir sollten uns ständig bewusst machen, dass wir nicht nur gewisse Rechte haben, die wir uns leichter vergegenwärtigen, sondern dass es auch notwendig ist, die Rechte des anderen zu respektieren. An die Pflichten, welche wir gegenüber der Gesellschaft haben, erinnern wir uns immer erst später als an familiäre Verpflichtungen. Vielleicht ist es deswegen notwendig sie den ethischen Kodexen und Katalogen von Pflichten zugrunde zu legen.
Vor einigen Jahren, auf einem theologischen Kongress in Köln, hörte ich das erste Mal von der Idee, ein solches Dokument zu formulieren, das einen Kodex der Menschenpflichten darstellen könnte. Es wurde über die einseitig fordernde Haltung gesprochen. Mit Anerkennung wurde die vor einem halben Jahrhundert ausgerufene Allgemeine Menschenrechtserklärung erwähnt. Auf der Schwelle zum neuen Jahrtausend stellte man jedoch fest, dass ein Schritt in Richtung Pflichtbewusstsein unternommen werden sollte.
Es genügt nicht, sich über die Rechte im Klaren zu sein, nicht einmal im Namen anderer. Wir müssen über die Verpflichtungen nachdenken, die sich aus diesen Rechten ergeben. Es ist höchste Zeit, dass die Gemeinschaft unseres Planeten einen grundlegenden Katalog der Menschenpflichten kodifiziert. Wenn wir vermeiden wollen, dass im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung das Recht des Stärkeren vorherrscht, sollten wir uns auf einen globalen Kanon ethischer Prinzipien verständigen, deren Erfüllung allen Menschen möglich ist, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Konfession oder politischer Überzeugung. So lauteten die Postulate der Theologen, welche alle Kontinente repräsentieren. Ich gebe zu, dass dies meine Vorstellungen anregte und einen Impuls zu weiteren Nachforschungen gab.
Im Internet fand ich zahlreiche Seiten, die sich mit dieser Problematik befassen. Der deutsche Ausdruck Menschenpflichten und der englische, deskriptivere Ausdruck human duties and responsibilities erwiesen sich als Schlüssel zu vielen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Diskussionsrunden, zu Gesprächen von Staatsmännern, Initiativen von Friedensnobelpreisträgern und schließlich zum weltweiten interreligiösen Dialog. Denn in vielen Orten der Welt wird die Diskussion über die Gestaltung eines Dokuments geführt, welches parallel zu der Erklärung der Menschenrechte stehen sollte.
Dies geht nicht ohne eine gewisse Polemik ab. Erstens, weil sich wenig Stichhaltiges und Brauchbares in derlei Ausführungen findet. Und dann, weil sie, wenn schon festgesetzt, de facto das persönliche Wohl von niemandem antasten und keine Konkurrenz zu den Menschenrechten bilden, und man beginnt, die nächsten Elemente ihrer Struktur hinzuzufügen.
Die weiteren Kapitel der Charta der Menschenpflichten sind Thema des jährlich in Danzig stattfindenden öffentlichen Dialogs, des so genannten Danziger Areopags. Der Danziger Areopag beruft sich auf die Tradition der Debatten im alten Athen sowie auf den Aufruf des Papstes, am „modernen Areopag" teilzunehmen. Im Jahr 2001 diskutierten wir das Allgemeinwohl. Im darauf folgenden Jahr diente das zweite Kapitel der Charta als Grundlage für Überlegungen zur Gerechtigkeit. Im Jahr 2003 war das Recht Thema des Danziger Areopags. In diesem Jahr widmen wir uns Überlegungen zu der Verantwortung des Wortes.
Im Licht der Charta der Menschenpflichten taucht die Frage nach der Möglichkeit der Durchsetzung der einzelnen Pflichten auf. Das Gewicht des Einflusses der Charta muss ein anderes sein als die Wucht rechtlicher Paragrafen. Die Charta der Menschenpflichten sollte ein Appell an das Gewissen, ein moralischer Anstoß, ein Zeichen eines reifen Bewusstseins sein. Man kann nicht auf ihrer Grundlage Ungehorsame bestrafen. Man sollte sich jedoch auf ein ethisches Bezugssystem einigen und dieses eindeutig artikulieren. Dieses Ethos sollte jedoch uneingeschränkt für die ganze Welt Geltung haben.
Pfarrer Krzysztof Nieda³towski
Künstlerseelsorger in Danzig
|